Freitag, 23. April 2010

Eine kleine Abschweifung.




Das Leben besteht nicht nur aus blutigen Wurstfingern und Im-Wald-Rumgerenne. Man muss sich auch mal einen schönen Abend machen. Wie sieht ein schöner Abend aus?


Ein bärtiger Mann, ein Stapel Bücher, ein Erfrischungsgetränk – so sieht ein schöner Abend aus. Vorausgesetzt der Mann heißt Harry Rowohlt, der Bücherstapel enthält Selbstverfasstes oder Selbstübersetztes, und in der Flasche glimmt goldfarbener Paddy’s.








Dass der Abend nicht nur schön, sondern auch lang wird, liegt an einer Eigenart Harry Rowohlts. Rechtschaffen hebt er zum Vortrag an, er selbst nennt das Schausaufen mit Betonung, gönnt sich bereits im ersten Absatz eine dramatische Pause und kommt dann von Hölzken auf Stöcksken. Sowohl Hölzken als auch Stöcksken sind so beschaffen, dass man sich einen Ast lacht. Was wiederum praktisch ist. Dann hat man im Winter was zum Heizen.


Einen solchen Abend gibt es seit geraumer Zeit auf CD. Sie heißt Der Paganini der Abschweifung und hält, was der Titel verspricht. Harry Rowohlt (nebenberuflich verdingt er sich als Vorleser, Sprecher und Lindenstraßen-Penner, hauptberuflich als Übersetzer von mittlerweile über 100 Büchern – Focus bezeichnete ihn einmal als Übersetzer des Märchens Pu der Bär, worauf er in einem Leserbrief zurückgiftete: „Aha. Pu der Bär ist also ein Märchen. Und die Bibel ist eine Novelle. Und Focus ist ein modernes Nachrichtenmagazin.“ – und jetzt habe ich den Faden verloren. Wo war ich? Ach ja: Harry Rowohlt) liest etwas Prosa, erzählt fünf Witze, singt drei Hymnen und schweift im Übrigen ab.


Wir erfahren Wissenswertes über seine Praktikantenzeit bei der Verlagsauslieferung, wo immer gemault wurde, er drücke aufs Tempo, was aber gar nicht stimmte. „Ich war nur der Einzige, der bei einem Titel wie Narziss und Goldmund unter Hermann Hesse nachsah und nicht unter Gartenbau.“


Über seine Memoiren, die ihm als Anhänger der gepflegten Orthografie erhebliche Bauchschmerzen bereiteten: „Die erste Auflage ist derart voller Satzfehler, dass wir – ich, mein Co-Autor Ralf Sotschek und Verleger Bittermann – uns eine gemeinsame Sprachregelung zurecht gelegt haben. Das, äh, Buch ist dermaßen fehlerhaft, weil die Tonbandmitschnitte von drei polnischen Spargelstecherinnen, die keine Silbe Deutsch können, rein phonetisch abgetippt worden sind. Und zwar in der Nachsaison.“


Und – mehr als drei der Abschweifungen will ich an dieser Stelle gar nicht verraten – über die Fischhandlung Schröter in Unna, wo er Zeuge wird, wie die Fischhändlergattin auf Anraten des Fischhändlergatten einen widerspenstigen Hummer ins Becken zurückschimpft: „Machs du woll, datt du mit dein Hintern wieder in Basseng reinkomms, du oll Sausack!“


Der Paganini der Abschweifung garantiert zwei vergnügte Stunden. Risiken und Nebenwirkungen sind vorhanden, aber überschaubar:


a) HR macht abhängig und
b) nach einer HR-Lesung findet man die meisten anderen Hörbücher zum Gähnen.


Beides ist nicht allzu dramatisch, weil
a) HR noch viele weitere CDs besprochen hat und
b) ständig auf Tournee ist.





„Wenn ich in Stuttgart lebte, würde ich nie ohne Stadtplan auf die Straße gehen, 
damit mich die Leute nicht für einen Einheimischen halten.“


Harry Rowohlt
Der Paganini der Abschweifung
Live im großen Saal der Berliner Volksbühne
Zwei Audio CDs
138 Minuten
Edition Tiamat, Berlin 2005
ISBN 3-89320-086-X
16,00 Euro






© Michael Frey Dodillet | Die Krawallmaustagebücher 2010

1 Kommentar:

  1. 1 Kommentar

    ANDREAS
    Köstlich ist auch Harry Rowohlts Rezept in Lassiter-Stil -- Titel "John Rock oder der Teufel" -- mit Passagen wie etwa: "… als ihn das hungrige Belfern dreier zweiundvierziger Enfields aufhorchen ließ. So, so, die Enfield-Drillinge haben sich dem sauberen Haufen beigesellt, spottete er mit grimmigem Grinsen und feuerte einmal knapp in Richtung des Belferns …"
    Sonntag, 25. April 2010 - 11:38

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