Dienstag, 15. Dezember 2009

Prickel-Pit und Dutt-Monster.



Doch. Es gibt Bücher, die sind lesenswert, obwohl kein einziger Hund darin vorkommt. Wer ein Geschenk sucht für Freunde, die in den 60ern klein waren, sollte zu den Kirschkernspuckern greifen.

Damals war die Markenwelt noch in Ordnung. Da waren Regalflächen noch nicht optimiert, so dass sogar dreieckige Trinktüten wie Orangen-Sunkist Platz fanden. Die konnte man kaufen, austrinken, aufpusten und mit einem Knall zertreten. Vorzugsweise im Freibad. Man trug dazu Bermudas und fror wie ein Schneider, weil einem grundsätzlich nasse Hosenbeine um die Knie schlugen.


Ahoi-Brause gab es ungerelauncht nur als Pulver im Tütchen. Keine Bonbons. Wer Brause lutschen wollte, musste schon zu Prickel-Pit greifen. Am Büdchen dann aber die schwere Entscheidung: Prickel-Pit oder doch lieber PEZ?

All diese Kostbarkeiten habe ich jüngst in einem Roman wieder gefunden: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande von Gernot Gricksch. Erzählt wird das Leben von Piet, Dille, Sven, Petra, Bernhard und Susann von der Wiege bis zum Vierzigsten.

Der Zirkus beginnt mit den ersten 600 Sekunden nach der Geburt. Nichts prägt einen Menschen mehr: Die Hebamme, wahrscheinlich noch ziemlich neu in ihrem Beruf und entsprechend aufgeregt, hob das Baby Petra hoch, blickte ihm kurz zwischen die Beine und lächelte dann Petras Mutter an: „Gratuliere, ein Junge!“ Dann, als sie genauer hinschaute, merkte sie, 0dass es ihr eigener Finger war, der zwischen Petras Beinen hervorlugte, und korrigierte sich hastig. Aber irgendwo in Petras Hirn hatte sich die erste Information schon verankert: Ein Junge? Ich bin ein Junge! Junge, Junge...

Frau Brackner, die erste Lehrerin, ist saudoof. Neil Armstrong betritt den Mond um 3 Uhr 56. (Hatte ich zwischenzeitlich total vergessen.) Nach einer Schulhofschlägerei gründet man die Kirschkernspuckerbande. Mit zehn will man J.D. Salinger lesen und läuft in der Bücherei vor die Pumpe: „Diese Abteilung ist ab vierzehn. Ihr seid noch keine vierzehn. Ihr stört die Erwachsenen“, nölte das Dutt-Monster tief und betonungslos und schubste uns dann zurück zu Pitje Puck, zu Hanni und Nanni, zu den drei Fragezeichen.

Immer sonntags kurz vor elf stratzen die Kirschkernspucker ins Roxy-Kino zur Matinee. Der zerknitterte Besitzer ist leidenschaftlicher Trinker. Er freut sich über jeden, der kommt, und lässt sogar die Kleinsten in die üblen Horrorschocker. Die Cola kostet 20 Pfennig. Man trägt Tabac Rasierwasser auf, das man dem Vater klaut. Man prügelt sich. Man knutscht. Man wird 16. Man wird schwanger. Ausgerechnet Petra. Von Dille. „Ich weiß gar nicht, was du gegen Rocky hast? Das ist doch ein super Name“, nörgelte Dilbert. „Ich nenne mein Kind nicht nach einem Boxer mit Dackelblick! Außerdem war der Film Scheiße“, motzte Petra. 

Bernhard hat irgendwann genug von seinen ewig besoffenen Eltern und haut ab. Piet wird Hafenstraßen-Punk, Sven schwul und Susann Hippie. Sie verknallt sich in Ich habe seinen Namen vergessen, aber er war ein so sensationell öder Typ, dass wir alle ihn nur „der Furz“ nannten. 1985 ist der Furz Geschichte. Susanns neuer Verlobter Norbert protzt mit dem ersten Handy: Lederbox, dick wie eine Arzttasche, 7 Kilo.

Getanzt wird vorzugsweise in der Baghwan-Disco, weil da dreimal pro Nacht ein Gong ertönt, die Musik verstummt und alle Baghwanesen zwei Minuten beten. Dieser Moment lässt sich hervorragend zum Zechprellen nutzen.

So bunt geht es vierzig Jahre lang zu. Jeder der Kirschkernspucker driftet durch sein eigenes, kleines Universum. Sie treffen sich, entfremden sich, begegnen sich wieder, streiten sich und finden erneut zusammen. Zum letzten Mal im Jahr 2000, als einer von ihnen im Grab liegt.

Wer das ist, verrate ich nicht. In diesem lieben, komischen Buch gibt es Stellen, die nachdenklich stimmen. Und ein bisschen Nachdenken ist an Weihnachten nicht die schlechteste Beschäftigung.

Wer die Kirschkernspucker an Freunde verschenken möchte, die noch LPs von Grobschnitt und Ritchie Blackmore’s Rainbow im Schrank haben, sollte das Päckchen stilecht garnieren mit Nappos, einer Schleckmuschel oder einem klebrigen Fläschchen TriTop.

Der Leckerschmecker heißt jetzt übrigens Curly-Wurly.






© Michael Frey Dodillet | Die Krawallmaustagebücher 2009

1 Kommentar:

  1. 1 Kommentar

    DIRK FISCHER
    Hallo Zusammen,
    dieses Buch ist eine sehr gute Empfehlung! Habe mich an vielen Stellen in die Vergangenheit zurück versetzt gefühlt. Es hat einen sehr guten Unterhaltungswert. Man findet sich sogar bei den Charakteren oft wieder... Werde es auf jeden Fall weiterempfehlen. Danke für den Tipp!
    Sonntag, 3. Januar 2010 - 22:03

    AntwortenLöschen

Krawallkommentare sind verboten. Es sei denn,
sie kommen von euren Hunden. :o)